Superkraft oder Behinderung – das Leben der Frau Schmidt

 Es gibt Menschen mit Superkräften. Chinesische Kaiser haben sie sich der Sage nach zunutze gemacht: während die einen jeden noch so versteckten Zwischenton in der Stimme hörten, sahen die anderen die auch subtilste, ganz unbewusste Nuance in Gestik und Mimik; gemeint sind die Berater, nicht die Kaisern. Solche Superkraft-Berater waren ganz klar von Vorteil für einen Herrscher, wenn nicht ganz klar war, was sein Gegenüber eigentlich sagen wollte, auch wenn es so schien – im schlimmsten Fall von tödlichen Nachteil für eben erwähnten Gegenüber, Friede seiner Asche. Zwecks überlebenswichtiger Kompensation eines nicht vorhandenen, essentiellen Sinnes wie Hören oder Sehen, haben diese Menschen einen anderen faktisch hypertroph entwickelt und zwar auf ein Niveau, das Normalos wie eine Superkraft erscheinen muss, wenn wir mal darüber nachdenken. Aber tun wir nicht. Denn ebenso ganz klar: solche Menschen nehmen die Welt anders wahr, also Menschen wie Frau Schmidt. Dabei haben wir nicht die geringste Ahnung von diesem „anders“, außer es ist … anders.

Was aber macht dieses so selbstverständliche „anders“ bei diesen Menschen aus? Wie ist dieses „anders“ durch Superkraft und Behinderung? Welchen Einfluss hat es auf die Denkstrukturen? Prägt es das Sozial-Verhalten, wenn ein Mensch glaubt, Hören bedeutet Gesprochenes von den Lippen abzulesen, wie Frau Schmidt damals auf dem Dorf, in ihrer Kindheit? Mit welchen Sinnen „hört“ ein gehörloser Mensch und wie „klingt“ das? Wir werden es zeigen und nachvollziehbar machen, denn uns berät Frau Schmidt. Frau Schmidt ist tatsächlich auch eine Beraterin. Nicht für einen Kaiser und nicht in China, sondern in Deutschland. Sie berät normalerweise Menschen, bevor und nachdem sie deren Gehör vermessen hat. Dies tut sie aus Freude an der Arbeit und weil es ganz einfach zum Job einer Hörakustik-Meisterin gehört. Der Haken dabei: bevor sie kam, hielt man das für ganz unmöglich. Nicht das Vermessen des Gehörs, das war ein alter Hut, sondern das ausgerechnet jemand wie Frau Schmidt es tut. Frau Schmidt ist eine Pionierin, denn sie trägt Cochlea Implantate. Wer Cochlea Implantate trägt, dessen natürliches Gehör ist so komplett gar nicht mehr vorhanden, dass sie oder er oder Frau Schmidt als taub gilt. Eine gehörlose Hörakustikerin ist wie ein Optiker, der blind ist. Schon mal einen blinden Optiker gesehen? … Eben. 

 

Wir können uns die Augen zuhalten und einbilden, so einen Blick in die Welt der Blinden zu erhaschen – aber versuchen Sie mal, das Gehör auszuschalten. Selbst mit Ohropax in den Ohren hört man immer noch die Geräuschkulisse des eignen Organismus. Frau Schmidt hört da einfach: nix. Was für ein Körpergefühl, was für eine Eigenwahrnehmung entwickeln Menschen, die nicht hören, wenn sie schmatzen, mit den Zähnen knirschen, seufzen, husten, einen Pups lassen und dergleichen mehr? Wir werden es Ihnen zeigen mit Frau Schmidts Hilfe. Schließlich hat sie einen Bachelor in Hörakustik und schließt fünf Tage die Woche als Meisterin morgens ihre Filiale auf, um dann zu tun, was Hörakustiker so tun, wenn sie arbeiten – obwohl sie nichts hört, jedenfalls von Natur aus. Um zu hören, braucht sie die erwähnten Cochlea Implantate. Sie weiß jede Menge über diese Wunder der Technik, denn wegen dieser „Computer im Kopf“ hat sie dann doch nicht Mathematik studiert, nachdem sie im Hörsaal kein Gehör fand und sich dort auch keiner darum kümmerte. Sie kümmerte sich schließlich selbst und beschloss als erstes, Hörakustik zu lernen. Nur so, fand sie, könne sie den Dingen auf den Grund gehen, also als Azubi in einem Lehrbetrieb. Sie wollte die ganze Sache genau verstehen, damit sie eine so wichtige, irreversible Entscheidung wie die Implantation von Hörprothesen kompetent treffen konnte. Daraufhin hagelte es aus der Hörakustik-Branche Absagen. Niemand wollte in einem Beruf, in dem das Gehör im Mittelpunkt steht, einen gehörlosen Menschen ausbilden. Erinnern Sie sich an den blinden Optiker? Versuchen Sie mal, so ein Argument zu entkräften … aber es gelang ihr. Wie vieles andere mehr, was zuvor für unmöglich gehalten wurde. Sie ließ sich nie entmutigen, darum traf sie dann auch die richtigen Personen, die ihr wirklich weiterhalfen. Sie kann uns Einblick geben in diese andere Welt, in der sie lebt und deren Teil wir sind, ohne zu wissen, wie. Ach ja. Welche Superkraft Frau Schmidt jetzt genau ausgebildet hat? Wenn Sie an dieser Stelle tatsächlich noch eine Antwort auf diese Frage brauchen, beweist das nur die Dringlichkeit, Ihnen dieses ungewöhnliche, einmalige Leben mit allem Pipapo in einer Doku vorzustellen. Ihnen - und allen anderen auch.

 

 

 

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